Eine Nacht im Grandhotel

jottkah

Well-known member
„Hast du Lust eine Nacht im Grandhotel zu übernachten?“ fragt mich kürzlich ein Kollege. „Ich mache dort eine Reportage für den Hörfunk und könnte technische Unterstützung gebrauchen und Bilder für die Website.“ „Na klar komme ich mit.“ Antworte ich. „Wer lässt sich schon eine Nacht im Nobelhotel auf Firmenkosten entgehen.“ So ähnlich hat sich der Beginn der Geschichte abgespielt.
Aber die Bürokratie verlangt erst mal, einen Dienstreiseantrag zu stellen. Ich google also nach dem Hotel, ich muss ja wissen, in welchen Ort die Reise geht.
Eigentlich hätte ich spätestens jetzt stutzig werden sollen, wenn auf Tripadvisor und booking.com keine Einträge zum Hotel zu finden sind. Aber ich brauche ja erst mal nur die Adresse, Grandhotel Waldlust in Freudenstadt.

Freudenstadt liegt am östlichen Rand des Nordschwarzwaldes. Ich reise von Stuttgart an, der Kollege vom Hörfunk startet in Tübingen. Um 16 Uhr sind wir dort verabredet.
Also auf die Autobahn Richtung Süden, nach einer Stunde rechts raus und von da an fahre ich auf eine schwarze Wand zu. Super. Sechs Wochen Sonne, kein Tropfen Regen und ich habe die einzige Gewitterzelle im Land am Horizont. Also beste Bedingungen für eine freundliche Lichtstimmung.
Nicht weit entfernt vom Freudenstädter Zentrum erscheint rechts auf einer Anhöhe das weiße Hotel. Es wirkt ehrwürdig mit dem großen Schriftzug „Waldlust“ auf der Fassade.

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Ich bin bei dem Anblick richtig aufgeregt. Ich freue ich mich auf diesen Ort, auf die Möglichkeit hier fotografieren zu dürfen. Aber das Hotel freut sich wohl nicht auf mich. Die Zufahrt ist abgesperrt, der Hinweis „Privatgrundstück“ sagt eindeutig, ich bin hier nicht erwünscht. Ist mir aber egal, ich habe ja einen offiziellen Termin.

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Doch ich werde das Gefühl nicht los, beim fehlenden Eintrag bei Tripadvisor hätte ich genauer nachforschen sollen. Es wirkt alles ziemlich verlassen. Und wenn man näher ran geht, sieht man es ganz schön an der Fassade bröckeln.

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OK, spätestens jetzt sollte ich vielleicht auflösen, dass ich ganz genau weiß, wo ich gelandet bin. Die Waldlust ist ein Lost Place und hat in den letzten Jahren, zumindest unter Fotografen, eine gewisse Bekanntheit erlangt. 1900 als Villa Waldlust eröffnet, 1903 vergrößert, ab 1922 Grand Hotel, Ende des Zweiten Weltkriegs Lazarett, seit 2005 ungenutzt. In ihrer langen Geschichte hat sie schon einige Prominenz kommen und gehen sehen. In seiner Blütezeit galt das Grandhotel Waldlust nach dem Adlon als das zweitbeste Hotel in Deutschland. Damals schon mit fließend kalt und warm Wasser, elektrischem Licht, beheizten Handtuchhaltern.

Ganz so lost ist der Place aber nicht. Denn der Denkmalfreunde Waldlust e. V. kümmert sich um den Erhalt des Gebäudes, bietet Führungen an, gewährt Fotografen Zugang und vermietet einzelne Räume für Veranstaltungen. Als Besonderheit, die man wohl bei anderen Lost Places nicht so schnell findet, bieten die Denkmalfreunde auch Übernachtungen im Hotel an. Und seit ich davon gehört habe, will ich das unbedingt mal machen. Jetzt bin ich aber ziemlich faul, was die Organisation von Fotoaktivitäten angeht. Gibt man mir den gedeckten Tisch, kann ich mich stundenlag an einem Ort oder Motiv festfressen. Da zeige ich Ausdauer. Aber selbst irgendwo anrufen, nach Genehmigungen fragen, Termine ausmachen, da fehlt mir sehr oft der Tritt in den Hintern. Gut wenn man einen Kollegen hat, der das Jubiläum 100 Jahre Grand Hotel Waldlust zum Anlass nimmt, bei einer solchen Übernachtung eine Hörfunkreportage samt Onlineartikel aufzunehmen. Da ist er also mein gedeckter Tisch, an dem ich mich festfressen kann.

Als Standardausrüstung habe ich Objektive mit Brennweiten von 10 mm bis 200 mm am 1,5 Crop-Sensor der Fuji X-T2 und die üblichen Kleinteile dabei. Als Spezialzubehör sind zwei Felloni LED-Flächenleuchten, zwei Taschenlampen, Farbfolien für die Taschenlampen und eine Trittleiter an Bord.
Ich bin zwei Stunden zu früh dort, um schon mal Außenaufnahmen vom Hotel zu machen. Dann ist das schon mal weg und ich muss später nicht mit dem schwindenden Tageslicht um die Wette rennen. Ohne Hektik bewege ich mich um das Gebäude, soweit das eben möglich ist. Versuche mal diese, mal jene Perspektive. Ich würde es nicht planlos nennen. Aber es ist schon mehr ein Testen und Ausprobieren, ein nicht ganz so gezieltes Fotografieren. Die Gewitterfront war auch so nett und ist in eine andere Richtung gezogen und ich muss nur gelegentlich ein, zwei Tropfen ertragen, die mich nicht behindern.

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Knapp zwei Stunden später tauchen zwei Herren auf, die den Eindruck machen, als würden sie sich hier auskennen. Ich bringe noch die Idee, die ich gerade hatte, aufs Bild und stelle mich vor. „So, grüß Gott. Send sie von de Denkmalfreund ond warded uf dr SWR?“ „Ja genau. I han mir scho denkt, dass sie zom Herr Schwarz kherad. Der kommt om Viere.“ Und wie aufs Stichwort kommt Herr Schwarz vom SWR um die Ecke und wir können endlich ins Grandhotel.

Michael Arndt und Karl-Heinz Lammel vom Verein Denkmalfreunde führen uns gleich durch die Prachträume im Erdgeschoss. Von der Eingangshalle durch den Wintergarten, vorbei an der American Bar, durch das Restaurant in den Festsaal. Die Augen werden immer größer, der Mund steht weit offen. Auch wenn nicht mehr alles blitzt und blinkt, Glanz und Stolz der 20er bis 40er Jahre sind überall zu spüren. Dem mondänen Flair kann man sich nicht entziehen. Es ist alles noch recht gut erhalten und eine gute Seele scheint auch regelmäßig mit dem Staubwedel durch die Räume zu gehen.

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Eingangshalle

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Wintergarten

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American Bar

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Restaurant

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Festsaal

Schaut man genauer hin bemerkt man aber, dass seit der letzten Renovierung etwas Zeit vergangen ist.

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Es riecht auch ein wenig muffig. Aber wer 122 Jahre alt ist darf das. Der Strom funktioniert größtenteils aber nicht in jeder Fassung steckt auch eine Birne.

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Der extra für das Jubiläum 100 Jahr Grandhotel restaurierte Kronleuchter im Festsaal strahlt in voller Pracht.

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(Wer mag kann hier einen kurzen Film zur Restaurierung anschauen.)

Im Foyer dann die ersten deutlichen Spuren des Verfalls, für die Lost Place Fans auch mal weite Wege gehen. Die Tapete hängt in großen Fetzen von der Wand. Doch Herr Arndt dämpft die Euphorie. „Des isch älles Pappmaché. Des isch no vom letschta Spielfilm.“ Für nicht indigene, die zerfetzte Tapete ist Filmkulisse. Stört mich aber nicht weiter, schön ist es trotzdem. Auch wenn nicht durch Verfall entstanden.

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Die Führung durch das Hotel geht in den oberen Stockwerken weiter. Im Treppenhaus ist es auch am Tag etwas düster. Zunächst hängt noch eine Lampe im Treppenhaus an der Wand. Dann werden die Stufen von einer Stehlampe beleuchtet, die im ersten Stock hinter dem Geländer steht. Will man noch höher, ohne zu stolpern, muss man die Stehlampe aus und eine Baulampe einstecken, die an der Wand baumelt. Auf dem Weg zu Stockwerk drei und vier muss man schließlich mit dem Restlicht klarkommen, das durch die offenen Zimmertüren in den Flur fällt.

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Ich frage, ob es auch die Zimmernummer 237 gibt. Die muss ich unbedingt fotografieren. Die Herren von den Denkmalfreunden verstehen nicht gleich und fragen nach. „Na das ist doch das Zimmer im Film Shining, in das Danny nicht rein soll“ erkläre ich. Diese Zimmernummer muss es geben und wir machen uns auf die Suche. Wir sind aber nicht die ersten, die das tun. 236 und 238 sind da, die 237 wurde abmontiert. OK, im Roman ist es nicht die 237 sondern Zimmer 217. Das würde auch gehen. Aber auch die 217 fehlt.
Nach dem Rundgang durch das Hotel verlassen uns Herr Arndt und Herr Lammel. Wir bekommen den Schlüssel und schließen uns ein.

Außer der dekorativ abgerissenen Tapete im Foyer hat das Produktionsteam des Films Franky Five Star (Kinostart unbekannt) noch weitere Kulissen hinterlassen. Mit denen beginne ich meine Fototour durch das Hotel. Die Räume wurden teilweise für die Dreharbeiten angepasst. So musste im rosa Bad eine Toilette für eine Duschwanne weichen und die Fliesen in einem weiteren Badezimmer waren nicht immer blaugrün. Die Perlenvorhänge wurden extra angebracht und das Bett scheint ursprünglich auch nicht zum Hotel zu gehören.

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Hier kommt erstmals eine der LED Flächenleuchten zum Einsatz, die Gegenlichtsituation im Bad ist sonst nicht zu bewältigen. Sie liegt im Bidet und strahlt mit geringer Leistung an die Decke. Der beheizbare Handtuchhalter an der Wand wäre sonst im Schwarz verschwunden. Die Lampe funktioniert zum Glück auch mit Akku. Sonst hätte das bedeutet 20 bis 30 Meter Kabel zu legen. Strom gibt es hier nur vereinzelt, weiter oben gar nicht mehr.
 
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Es ist schon halb sieben, der Sonnenuntergang ist absehbar. Ich gehe in den fünften Stock und arbeite mich nach unten vor, so dass ich elektrischem Licht immer näher komme, je dunkler es draußen wird. Ich schaue in jeden Raum. Manche haben einen einfachen Grundriss, andere sind unübersichtlich verwinkelt mit mehreren Nebenzimmern. Vereinzelt stehen Möbel in den Räumen. Nicht alle sind aber original aus dem Hotel. Einige Freudenstädter „spenden“ schon mal ihren Sperrmüll der Waldlust. Was verwertbar ist und zum Stil des Hotels passt stellen die Denkmalfreunde auf.

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Schnell wird klar, wenn ich hier zeitlich irgendwie durchkommen will, muss ich von Beginn an priorisieren und darf nicht jede Ecke fotografieren. Sonst ist es Nacht und ich bin noch in Zimmer vier. So kommt es auch, dass ich – mit wenigen Ausnahmen – meist Totalen der Räume mache.

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Damit ich mit rauscharmer ISO arbeiten kann ist alles vom Stativ. Ich richte dabei die Kamera so exakt wie möglich aus und versuche stürzende Linien zu vermeiden. Das spart später nicht nur Arbeit, sondern unterstreicht auch den sachlichen, dokumentarischen Charakter der Bilder. Anders als bei den Außenaufnahmen gehe ich hier also sehr geordnet und bewusst vor.

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Ich bin nicht nur von den Räumen begeistert, sondern auch von den Restlichtqualitäten meiner Kamera. In Zimmern mit Fenstern nach Norden oder Osten sehe ich kaum noch etwas, die Kamera schon. Und so gelingen bis zur Dunkelheit sehr ansehnliche Bilder.

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Ich will noch in zwei, drei Zimmer und dann mal wieder nach dem Kollegen Bertram Schwarz schauen, der in der Zwischenzeit an seinem Hörfunkbeitrag gearbeitet hat. Ich öffne die Tür zu einem der verwinkelten Zimmer. Es gibt nur noch spärliches Tageslicht und die Fenster sind noch dazu grob mit Brettern vernagelt, um Eindringlinge abzuhalten. Zum ersten Mal wird es gruselig. Ich sehe nichts außer dunkler und gefährlich wirkender Ecken. Weiß nicht, ob vor mir im Boden eine morsche Stelle zur Stolperfalle wird oder ob hinter der Wand jemand steht. Da fällt mit leisem Klicken hinter mir die Tür ins Schloss. Der Klassiker aus jedem zweiten Horrorfilm. Hoffentlich hat die Tür innen eine Klinke. Oder lauert gar jemand hinter mir und hat die Tür absichtlich geschlossen? Vielleicht sollte ich jetzt mal eine der Taschenlampen auspacken.
Kurz durchatmen. Niemand hinter mir und eine Türklinke ist auch da. Trotzdem drängt es mich etwas unentspannt aus dem Zimmer. Auf dem Flur höre ich Schritte. Großartig, geht das jetzt mit der Spukerei los? Aber es ist nur Bertram, der vorsichtig das dunkle Treppenhaus hochsteigt. „Wir wollten uns doch nicht festbeißen“ meint er. „Doch, war eigentlich mein Plan“ antworte ich. „Aber ich komme jetzt trotzdem mit nach unten.“


Fortsetzung folgt.
 
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Da kann ich mich nur anschließen, habe Deinen Bericht mit Freude gelesen und die tollen Fotos angeschaut. Das war schon ein außergewöhnliches Erlebnis.
 
Gut, daß es den Verein gibt und dort kein Vandalismus und Schmierereien vorherrschen.
Super Bericht. Hatte schon einige Berichte davon gesehen. Da muss es wohl noch mehr solcher Bauten im SW geben.
Aber einen Mordfall hat es dort wohl wirklich gegeben....
 
Ich habe mitgefiebert wie bei einem spannenden Roman, Du erzählst großartig, nachvollziehbar und nimmst den Leser auf Deine abenteuerliche Reise mit. Wenn die Bilder nicht ebenfalls grandios wären, würde man sie beinahe nicht vermissen, beides zusammen bildet den wunderbaren Genuß einer einzigartigen und kenntnisreichen Zeitreise, deren Fortsetzung ich heiß erwarte!
Vielen Dank für diese Doku und bitte teile uns den Sendetermin mit. !!

LG Jürgen
 

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